Die große Neuordnung: Wenn Geopolitik die Wirtschaft neu schreibt

Die Ära der stabilen Weltwirtschaft bröckelt, während geopolitische Faktoren zunehmend über wirtschaftliche Entwicklungen entscheiden und neue globale Machtverhältnisse entstehen.

Kurz zusammengefasst:
  • USA setzen auf Konfrontationskurs mit internationalen Folgen
  • Europa ringt um Einheit zwischen Prinzipien und Pragmatismus
  • Saudi-Arabien positioniert sich als unabhängiger globaler Akteur
  • Brasilien inszeniert sich als Klimavorreiter trotz Widersprüchen

Die große Neuordnung: Wenn Geopolitik die Wirtschaft neu schreibt

Guten Tag,

während in Deutschland der 9. November als Tag der Erinnerung begangen wird, vollzieht sich auf den globalen Märkten eine stille Neuordnung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse. Was auf den ersten Blick wie eine Ansammlung einzelner Nachrichtensplitter aussieht – ein US-Shutdown hier, Sanktionen gegen Iran dort, Klimagipfel in Brasilien – fügt sich bei genauerer Betrachtung zu einem Bild zusammen: Die Ära der stabilen, regelbasierten Weltwirtschaft bröckelt. An ihre Stelle tritt eine Welt, in der geopolitische Schachzüge über Quartalsergebnisse entscheiden und in der Handelsrouten wichtiger werden als Handelsbilanz.

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Drei Entwicklungen stechen heraus: Die USA unter Donald Trump setzen ihre „Maximum Pressure“-Strategie fort und treiben dabei selbst Verbündete vor sich her. Europa ringt um seine Rolle zwischen amerikanischen Forderungen und eigenen Interessen. Und Schwellenländer wie Brasilien und Saudi-Arabien nutzen die Gelegenheit, sich als unverzichtbare Akteure zu positionieren.

Washington spielt Hardball – und zahlt den Preis

Der längste Shutdown in der US-Geschichte zeigt seine Zähne. Seit Anfang Oktober stehen Teile der Bundesverwaltung still, Flughäfen melden Chaos, die Luftfahrtbehörde FAA hat den Flugverkehr um zehn Prozent reduziert. Das Auswärtige Amt warnt deutsche Reisende vor „umfassenden Einschränkungen“ – ein diplomatischer Euphemismus für ein System am Limit.

Doch Trump bleibt hart. Auf Truth Social signalisierte er, zu keinerlei Kompromissen bereit zu sein. Die Botschaft an Republikaner und Demokraten gleichermaßen: Wer nachgibt, verliert. Das Problem: Die wirtschaftlichen Kollateralschäden summieren sich. Tausende Bundesangestellte arbeiten ohne Gehalt, Nationalparks bleiben geschlossen, Visa-Bearbeitungen stocken. Was als Machtdemonstration gedacht war, wird zur Belastungsprobe für die größte Volkswirtschaft der Welt.

Parallel dazu eskaliert Trump seine Drohkulisse auf der internationalen Bühne. Südafrika, Gastgeber des G20-Gipfels Ende November, wird mit einem US-Boykott gedroht – angeblich wegen der Behandlung weißer Farmer, eine Behauptung ohne belastbare Belege. Dass Trump stattdessen seinen eigenen Golfclub in Miami als Austragungsort für den nächsten G20-Gipfel 2026 ins Spiel bringt, wirft Fragen nach der Vermischung von Staatsinteressen und persönlichen Geschäften auf.

Europas Dilemma: Zwischen Prinzipien und Pragmatismus

Für Europa wird die Gemenglage zunehmend unbequem. Nirgendwo zeigt sich das deutlicher als im Umgang mit Ungarn. Viktor Orbán kehrte gerade aus Washington zurück – mit einer Sonderregelung für russisches Öl im Gepäck. Trump gewährte Budapest eine einjährige Ausnahme von den Sanktionen gegen russische Energiekonzerne, obwohl die EU bis Ende 2027 vollständig aus russischen Importen aussteigen will.

Orbáns Argument: Ungarn habe als Binnenstaat keine Alternative. Die Realität: Budapest hat nie ernsthaft nach Alternativen gesucht. Die Druschba-Pipeline aus Russland fließt weiter, während andere EU-Staaten längst diversifiziert haben. Trump stellt dies als pragmatische Lösung dar und kritisiert gleichzeitig andere europäische Länder für ihre Energiekäufe aus Russland – eine bemerkenswerte Logik.

Für die EU ist das ein Schlag. Die gemeinsame Front gegen Moskau bekommt Risse, die Glaubwürdigkeit der Sanktionspolitik leidet. Und es zeigt: In Trumps Welt zählt bilaterale Gefälligkeit mehr als multilaterale Geschlossenheit.

Auch die Asylpolitik verschärft sich. Deutschland meldet für Oktober einen dramatischen Anstieg bei Ablehnungen syrischer Asylbewerber: 1.906 negative Bescheide, gegenüber nur 163 im gesamten Zeitraum Januar bis September. Kanzler Friedrich Merz drängt auf schnelle Abschiebungen nach Syrien, besonders für Straftäter. Die Botschaft ist klar: Nach dem Sturz Assads soll die „dynamische Situation“ nicht mehr als Schutzschild dienen. Doch die humanitäre Lage in Syrien bleibt hochgradig unklar – ein Spannungsfeld zwischen innenpolitischem Druck und völkerrechtlichen Verpflichtungen.

Naher Osten: Fragile Waffenruhen und brüchige Allianzen

Einen Monat nach Beginn der Waffenruhe im Gazastreifen herrscht bestenfalls angespannte Ruhe. Israel und die Hamas werfen sich gegenseitig Verstöße vor. Die Hamas lehnt die geforderte Entwaffnung kategorisch ab – „das Konzept der Kapitulation existiert nicht im Wörterbuch der Al-Qassam-Brigaden“, heißt es in einer Stellungnahme. Gleichzeitig stockt die Übergabe der Leichen gefallener Geiseln, während 200 Hamas-Kämpfer in Rafah weiter ausharren.

Die USA, Hauptvermittler des Friedensplans, stehen vor einem Dilemma. Der Plan sieht Entwaffnung vor, die Hamas verweigert sich. Ohne Fortschritt droht die Waffenruhe zu kollabieren – mit unabsehbaren Folgen für die Region. Parallel dazu bemüht sich Washington, die Abraham-Abkommen auszuweiten. Kasachstan kündigte seinen Beitritt an, ein symbolischer Schritt ohne große Substanz. Die eigentliche Preisfrage bleibt: Wird Saudi-Arabien folgen?

Die Antwort aus Riad ist eindeutig: Nicht ohne palästinensischen Staat. Kronprinz Mohammed bin Salman reist am 18. November nach Washington – sein erster Besuch seit dem Mord an Jamal Khashoggi 2018. Doch eine Normalisierung mit Israel steht nicht auf der Agenda. Zwei Golfquellen bestätigen gegenüber Reuters: Saudi-Arabien hat den USA signalisiert, dass seine Position unverändert ist. Solange Netanjahu einen palästinensischen Staat ablehnt, gibt es keine Annäherung.

Stattdessen konzentriert sich Riad auf ein Verteidigungsabkommen mit den USA – allerdings abgespeckt. Der erhoffte NATO-ähnliche Vertrag ist vom Tisch, stattdessen ein Modell ähnlich dem Qatar-Deal: erweiterte Militärkooperation per Präsidentenerlass, jederzeit widerrufbar. Für MbS ein Kompromiss, für Trump ein schneller Erfolg. Die Bedingung: Saudi-Arabien muss seine militärisch-industriellen Beziehungen zu China begrenzen – eine Gratwanderung zwischen strategischer Autonomie und amerikanischen Sicherheitsgarantien.

Klimagipfel in Belém: Zwischen Ambition und Widerspruch

Brasilien inszeniert sich als Klimavorreiter. Die COP30 in Belém, direkt am Amazonas, soll ein Signal setzen: Zehn Jahre nach Paris ist es Zeit für Taten statt Versprechen. Präsident Lula spricht von der „COP der Wahrheit“ und fordert die Staaten auf, endlich zu liefern.

Die Symbolik stimmt, die Realität hinkt hinterher. Kurz vor dem Gipfel genehmigte Brasilien neue Ölbohrungen in der Amazonasmündung – ein „Sabotageakt gegen die Klimakonferenz“, wie das Klimanetzwerk Observatório do Clima kritisiert. Auch die neue Schnellstraße durch den Regenwald nach Belém sorgt für Unmut. Brasilien argumentiert, Planung und Bau liefen schon lange, doch der Zeitpunkt ist verheerend.

Immerhin: Der Gipfel brachte konkrete Fortschritte. Ein neuer Fonds zum Schutz tropischer Wälder in über 70 Staaten wurde angeschoben, Erklärungen zur Bekämpfung von Waldbränden und zur Armutsminderung verabschiedet. Doch der Bedarf ist gigantisch: Entwicklungsländer brauchen bis 2035 jährlich mindestens 310 Milliarden Dollar für Klimaanpassung – das Zwölffache der derzeitigen Mittel.

Die politische Großwetterlage erschwert Fortschritte. Mit den USA unter Trump fehlt einer der größten Emittenten am Verhandlungstisch. Die Schlagzeilen dominieren Kriege in Gaza, der Ukraine und dem Sudan. Lulas Mahnung klingt verzweifelt: „Mauern an Grenzen können weder Dürren noch Stürme aufhalten.“

Neue Mächte, neue Regeln

Während die alten Ordnungsmächte USA und EU mit sich selbst beschäftigt sind, nutzen andere die Gelegenheit. Saudi-Arabien positioniert sich als unverzichtbarer Energieakteur und globaler Konferenzgastgeber – nächste Woche folgt die UNIDO-Generalkonferenz in Riad, ein weiterer Baustein im Image-Wandel des Königreichs.

Das Biban Forum in Riad schloss mit Vereinbarungen im Wert von über 10 Milliarden Dollar ab – ein Signal an Investoren weltweit. Mehr als 100.000 Teilnehmer aus 113 Ländern, darunter Fußballlegende Ricardo Kaká als Redner, zeigen: Saudi-Arabien will als Innovations-Hub wahrgenommen werden, nicht nur als Ölproduzent.

Auch im Technologiesektor verschieben sich die Gewichte. ChainUp, ein in Singapur ansässiger Anbieter von Blockchain-Infrastruktur, wurde als bester Technologieanbieter für digitale Vermögenswerte im asiatisch-pazifischen Raum ausgezeichnet. Die Botschaft: Institutionelle Finanzakteure akzeptieren Krypto-Assets als tragende Säule – nicht mehr als Spekulation am Rand, sondern als Kerninfrastruktur. Europa muss aufpassen, in diesem Rennen nicht abgehängt zu werden.

Energiemärkte: Die KI-Revolution frisst weniger als gedacht

Eine überraschende Erkenntnis aus den USA: Der Anstieg der Strompreise wird nicht von KI-Rechenzentren getrieben, sondern von Reindustrialisierung. KI macht derzeit nur drei Prozent des US-Strombedarfs aus – weit weniger als befürchtet. Analysten haben ihre Wachstumsprognosen von drei auf ein Prozent pro Jahr zurückgenommen.

Der Grund: Software- und Hardware-Effizienz steigen schneller als erwartet. Google Gemini verbraucht heute weniger Energie per Anfrage als eine Google-Suche vor fünf Jahren. Zudem zeigt sich: Dort, wo günstiges Schiefergas verfügbar ist – Louisiana, Texas, Ohio –, bleiben die Preise stabil. Die höchsten Anstiege verzeichnen Kalifornien und Massachusetts, Staaten ohne fossile Energieträger.

Für Europa eine Lehre: Die Energiewende ist machbar, wenn Effizienz und Flexibilität mitgedacht werden. 70 Prozent der US-Haushalte haben Smart Meters, aber nur zehn Prozent nutzen variable Tarife. Das Potenzial für Lastmanagement ist riesig – und könnte den Bedarf an neuer Erzeugungskapazität deutlich senken.

Ausblick: Die Woche der Entscheidungen

Die kommenden Tage bringen Klarheit in mehreren Brennpunkten. Am 18. November trifft Trump Kronprinz Mohammed bin Salman – ein Treffen, das die Weichen für die US-Nahost-Politik stellen könnte. Zeitgleich läuft die COP30 in Belém auf Hochtouren, mit der Halbzeit-Demonstration am 15. November als erstem Stimmungstest.

In Washington bleibt die Shutdown-Frage ungelöst. Jeder weitere Tag kostet Milliarden und untergräbt das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der USA. Und in Europa wird beobachtet, wie sich die neue deutsche Regierung unter Kanzler Merz positioniert – in der Asylpolitik, im Umgang mit Russland, in der Klimafrage.

Die Weltwirtschaft steht an einem Wendepunkt. Die Regeln der Nachkriegsordnung gelten nicht mehr uneingeschränkt, neue sind noch nicht etabliert. In dieser Übergangsphase zählt Pragmatismus mehr als Prinzipien, bilaterale Deals mehr als multilaterale Abkommen. Für Unternehmen und Investoren bedeutet das: Geopolitik wird zum Geschäftsrisiko Nummer eins. Wer nur auf Bilanzen schaut, übersieht die tektonischen Verschiebungen.

Eine Frage bleibt: Führt diese Neuordnung zu mehr Stabilität – oder nur zu neuen Abhängigkeiten unter anderen Vorzeichen?

Einen nachdenklichen Sonntag wünscht Ihnen

Eduard Altmann

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