Guten Abend,
in Berlin wird heute gezählt. Kurz nach 13 Uhr dürfte feststehen, ob die Koalition aus Union und SPD ihr umstrittenes Rentenpaket durch den Bundestag bringt – oder ob Friedrich Merz‘ erste große Bewährungsprobe zur Blamage wird. Die Junge Gruppe der Union droht mit Nein-Stimmen, die Linke hat Enthaltung angekündigt. Klingelt es da? Genau: Eine Regierung, die auf die Gnade der Opposition angewiesen ist, um ihre eigenen Gesetze durchzubekommen. Willkommen in der neuen deutschen Realpolitik.
Doch während in Deutschland die parlamentarische Arithmetik zur Nervenprobe wird, macht Brüssel ernst mit dem größten Umbau der Finanzmarktregeln seit Jahren. Und in den USA? Dort wird eine Generalstaatsanwältin zum zweiten Mal angeklagt – weil sie es gewagt hat, Donald Trump juristisch herauszufordern.
Rentenpoker in Berlin: Wenn Enthaltung zur Rettung wird
Das Szenario ist bizarr: Die Koalition braucht 284 Stimmen, wenn sich alle 64 Linke-Abgeordneten enthalten. Mit 328 Stimmen hätte Schwarz-Rot einen Puffer von 44 – theoretisch. Praktisch gab es in der Unions-Testabstimmung am Dienstag 10 bis 20 Gegenstimmen. CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann beschwört die eigenen Reihen: „Die Koalition braucht eine eigene Mehrheit.“ Vizekanzler Lars Klingbeil wird deutlicher: „Wir können nicht immer davon ausgehen, dass die Linken oder dass die Grünen uns da zur Seite springen.“
Worum es geht? Um die Stabilisierung des Rentenniveaus bei 48 Prozent bis 2031 – Kosten: 11 Milliarden Euro allein in jenem Jahr. Plus: Mütterrente-Ausweitung für vor 1992 geborene Kinder um weitere sechs Monate, ab 2027 zunächst fünf Milliarden Euro jährlich. Die jungen Unionsabgeordneten lehnen vor allem ab, dass das Rentenniveau auch ab 2032 höher sein soll als ohne gesetzlichen Eingriff. Ihr Argument: Die Milliardenkosten treffen eine Generation, die ohnehin schon die Zeche für den demografischen Wandel zahlt.
Die AfD nutzt das Chaos für Polemik, Alice Weidel erklärt die Koalition für „gescheitert“ und spottet, Merz sei „Kanzler einer SPD-Minderheitsregierung von Gnaden der mehrfach umbenannten SED“. Doch die eigentliche Frage ist ernster: Kann eine Regierung, die bei ihrer ersten großen Abstimmung auf externe Hilfe angewiesen ist, überhaupt die notwendigen Reformen für Deutschland durchsetzen? Die Antwort kommt heute Mittag.
Brüssel will Finanzmarkt-Revolution – und Deutschland profitiert
Während Berlin mit sich selbst beschäftigt ist, legt die EU-Kommission ein Reformpaket vor, das die Finanzmarktregeln in Europa grundlegend umkrempeln soll. Ziel: Europas Kapitalmärkte aus der Zersplitterung holen und global wettbewerbsfähig machen. Die Zahlen sprechen Bände – rund 10 Billionen Euro liegen auf europäischen Bankkonten und werfen kaum Rendite ab. Geld, das investiert werden könnte, aber nicht investiert wird.
Die Pläne sind ehrgeizig: Vorschriften für Handelsplätze sollen harmonisiert, Aufsichtsprozesse gestrafft werden. Die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde ESMA in Paris soll künftig direkt über bedeutende grenzüberschreitend tätige Akteure wachen – darunter bestimmte Handelsplätze, alle Krypto-Dienstleister und Zentralverwahrer. EU-Kommissarin Maria Luís Albuquerque sagt: „Europa hat zu lange eine die Wirtschaft bremsende Zersplitterung toleriert.“
Für Deutschland könnte das ein Segen sein. Die hiesigen Kapitalmärkte gelten als tief, aber fragmentiert. Markus Ferber, wirtschafts- und finanzpolitischer Sprecher der EVP-Fraktion, nennt es beim Namen: „Unsere Kapitalmärkte sind im Vergleich zu den USA zersplittert, klein und wenig liquide – das schadet Wachstum, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit in Europa jeden Tag.“
Ob die Pläne Realität werden? Das entscheiden nun Europaparlament und Mitgliedstaaten. Doch die Stoßrichtung ist klar: Europa will raus aus der Defensive – und endlich einen echten Finanzbinnenmarkt schaffen, der Privatanlegern bessere Renditen und Unternehmen einfacheren Zugang zu Kapital bietet.
USA: Wenn Staatsanwältinnen zu Staatsfeinden werden
In den USA läuft derweil ein juristisches Drama der besonderen Art: Eine Grand Jury prüft eine zweite Anklage gegen Letitia James, die New Yorker Generalstaatsanwältin, die Donald Trump wegen Betrugs verklagt und zu einer Strafe von über 450 Millionen Dollar verdonnert hat. Die erste Anklage wurde im November kassiert – der zuständige Richter befand, die Staatsanwältin sei unrechtmäßig ernannt worden.
Jetzt versucht das Justizministerium unter Trump einen zweiten Anlauf. James wird vorgeworfen, bei Hypothekendokumenten gelogen zu haben, um günstigere Kreditkonditionen zu erhalten. Die Ironie: Genau das hatte sie Trump vorgeworfen – Überbewertung seines Vermögens, um Banken zu täuschen. Ein New Yorker Berufungsgericht hat die Strafe zwar gekippt, aber die Betrugsvorwürfe gegen Trump bestätigt. Beide Seiten gehen nun vor das höchste Gericht des Bundesstaates.
Die Botschaft ist klar: Wer Trump juristisch herausfordert, wird selbst zum Ziel. Neben James wurden auch Ex-FBI-Chef James Comey und Trumps ehemaliger Sicherheitsberater John Bolton angeklagt. Beobachter warnen vor einer Politisierung der Justiz – auf beiden Seiten.
Marktausblick: Anleihen unter Druck, Fed-Zinssenkung eingepreist
An den Finanzmärkten steigt die Nervosität. Die Rendite 10-jähriger US-Staatsanleihen kletterte am Donnerstag auf 4,085 Prozent, die 2-Jahres-Rendite auf 3,508 Prozent. Analysten von Wolfe Research sehen sechs Gründe, warum die Renditen 2026 nicht fallen dürften – darunter eine mögliche Haushaltskrise, falls das Supreme Court Trumps Notstandsbefugnisse für Zölle kippt und Rückzahlungen fällig werden.
Gleichzeitig gilt eine Zinssenkung der Fed um 25 Basispunkte bei der Sitzung am 9./10. Dezember als gesetzt. Spekulationen über einen neuen, dovisheren Fed-Chef – Medien nennen Kevin Hassett als Favoriten – befeuern die Debatte. Doch Wolfe Research dämpft die Erwartungen: Hassett werde das gesamte Offenmarktkomitee nicht in eine „scharf dovische“ Richtung ziehen können. Die Fed bleibe datengetrieben – und die Daten zeigen eine Wirtschaft, die sich 2026 wieder beschleunigen könnte.
Und sonst so?
In Stralsund kehrt der Schiffbau zurück: Die Fassmer-Werft pachtet Flächen und Hallen auf dem Volkswerftgelände und beginnt Anfang 2026 mit der Fertigung des Fischereiforschungsschiffs „Walther Herwig III“. Die IG Metall ist begeistert, Oberbürgermeister Alexander Badrow spricht von einer „großartigen Nachricht“. Nach der Insolvenz der MV Werften 2022 war die Zukunft des Standorts ungewiss. Jetzt gibt es Hoffnung – und womöglich bald wieder Arbeitsplätze in einer Region, die dringend welche braucht.
Und in Brüssel? Dort sprechen sich die EU-Staaten gegen eine jährliche TÜV-Untersuchung für Autos über zehn Jahre aus – ein Vorschlag der Kommission, der die Verkehrssicherheit erhöhen sollte. ADAC und EVP-Abgeordnete unterstützen die Ablehnung: Die Kosten wären hoch, der Sicherheitsgewinn fraglich. In Deutschland müssen Fahrzeuge alle zwei Jahre zur Hauptuntersuchung, unabhängig vom Alter. Das bleibt vorerst so.
Morgen wird sich zeigen, ob die Koalition in Berlin ihre erste Bewährungsprobe besteht – oder ob Merz lernen muss, dass Regieren mit knappen Mehrheiten ein Balanceakt ist, bei dem jeder Fehltritt teuer wird. Bis dahin wünsche ich Ihnen einen ruhigen Abend.
Beste Grüße
Eduard Altmann
