Guten Tag,
manchmal offenbaren sich tektonische Verschiebungen nicht in den Schlagzeilen über Zinsentscheide oder Quartalszahlen, sondern in scheinbar disparaten Meldungen, die erst beim zweiten Blick ein Muster ergeben. Diese Woche liefert ein solches Kaleidoskop: Während in Zug, dem Schweizer „Crypto Valley“, eine japanische Entertainment-Plattform ihre europäische Expansion plant, kündigen in Deutschland Traditionsunternehmen ihre Mitgliedschaft in Wirtschaftsverbänden – aus politischen Gründen. Gleichzeitig kämpft die europäische Raumfahrt um Budgets, und in den USA überschattet ein Terroranschlag die letzten Züge des Wahlkampfs. Was verbindet diese Ereignisse? Sie alle erzählen von Identitätskrisen – wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen. Und sie zeigen, wie fragil die Fundamente sind, auf denen unsere Wohlstandsmodelle ruhen.
Das Schweizer Paradox: Blockchain trifft Bankenregulierung
Fanpla AG, eine Tochter des japanischen Unternehmens Fanpla Inc., hat sich bewusst für Zug als europäische Zentrale entschieden. Die Stadt am Zürichsee gilt seit Jahren als globales Epizentrum der Blockchain-Industrie – nicht trotz, sondern wegen der Schweizer Regulierung. Während andere Länder zwischen Verboten und Laissez-faire schwanken, hat die Schweiz einen dritten Weg gewählt: klare Regeln, die Innovation ermöglichen, ohne Anleger schutzlos zu lassen.
Fanpla bringt eine digitale Entertainment-Plattform nach Europa, die auf Polygon läuft und bereits über vier Millionen zahlende Mitglieder in Japan bedient. Der FPL-Token, im November 2025 via IEO auf Coincheck gelistet, soll Fans und Künstlern neue Interaktionsformen ermöglichen – von NFT-Käufen bis zu exklusiven Inhalten. Das klingt nach klassischem Web3-Marketing. Doch die strategische Dimension liegt woanders: Fanpla positioniert sich als Brücke zwischen japanischer Content-Kultur und europäischem Regulierungsrahmen. Die ISO-27001-Zertifizierung, die das Unternehmen anstrebt, ist kein technisches Detail, sondern ein Signal an institutionelle Partner: Wir spielen nach euren Regeln.
Die Ironie? Während Europa bei Halbleitern, KI und Cloud-Infrastruktur den Anschluss verliert, wird es zur bevorzugten Adresse für Blockchain-Unternehmen, die Legitimität suchen. Das Crypto Valley ist nicht Ausdruck europäischer Innovationskraft, sondern ihrer Fähigkeit, Regeln zu setzen. Eine bittere Erkenntnis für einen Kontinent, der einst durch Erfindungen, nicht durch Paragrafen glänzte.
Deutsche Unternehmen im Politikstrudel: Wenn Mitgliedschaften zur Gewissensfrage werden
Fritz Kola, Rossmann, Vorwerk – drei Unternehmen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, eint seit dieser Woche eine Entscheidung: Sie haben ihre Mitgliedschaft im Verband der Familienunternehmer gekündigt. Der Grund: Der Verband unter Präsidentin Marie-Christine Ostermann hatte im Oktober erstmals AfD-Vertreter zu einem Parlamentarischen Abend eingeladen und das „Kontaktverbot“ aufgehoben.
Die Austritte sind mehr als symbolische Gesten. Sie markieren einen Bruch in der deutschen Wirtschaftskultur, in der Verbandsmitgliedschaften traditionell als unpolitische Selbstverständlichkeit galten. Nun wird die Mitgliedschaft zur Positionierung. Fritz Kola begründet den Schritt explizit mit dem Bekenntnis zu „offener, demokratischer Gesellschaft“ als Grundlage wirtschaftlichen Handelns. Verdi-Chef Frank Werneke warnt vor einem „Abdriften nach rechts“ und erinnert an die Unterstützung der NSDAP durch Industrielle 1933. Die historische Parallele ist gewagt – aber sie zeigt, wie aufgeladen die Debatte ist.
Bemerkenswert ist die Gegenposition: dm-Chef Christoph Werner und Europa-Park-Gründer Roland Mack plädieren für Dialog statt Ausgrenzung. Werner will „inhaltlich sachlich und tiefgründig“ mit der AfD auseinandersetzen, ohne deren demokratiefeindliche Positionen zu akzeptieren. Mack betont, dass ein Gespräch nicht automatisch Zustimmung bedeute. Beide argumentieren pragmatisch: Wer ein Viertel der Wähler ignoriert, verliert den Kontakt zur Realität.
Die Frage dahinter ist ökonomisch brisant: Kann sich die deutsche Wirtschaft leisten, sich politisch zu spalten, während sie gleichzeitig unter Strukturproblemen ächzt? Die Debatte um die „Brandmauer“ bindet Energie, die für die Bewältigung der Transformation dringend gebraucht würde. Und sie offenbart eine tiefere Unsicherheit: Was ist die Rolle von Unternehmen in einer polarisierten Gesellschaft? Neutrale Akteure oder Werteträger? Die Antwort fällt unterschiedlich aus – und das ist vielleicht das eigentliche Problem.
Europas Raumfahrt: Rekordetats und die Angst vor der Irrelevanz
Die Europäische Weltraumorganisation ESA hat in Bremen ein Drei-Jahres-Budget von 22,1 Milliarden Euro beschlossen – ein Rekord, der fast die gesamte vorgeschlagene Summe erreicht. Deutschland trägt mit 5,4 Milliarden Euro den größten Anteil. ESA-Chef Josef Aschbacher hatte zuvor gewarnt, Europa drohe in der Raumfahrt abgehängt zu werden. Die Botschaft scheint angekommen: Die Mitgliedstaaten investieren so viel wie nie.
Doch die Euphorie täuscht über strukturelle Probleme hinweg. Europa hat in der Raumfahrt eine merkwürdige Position: technologisch kompetent, aber strategisch orientierungslos. Während die USA mit SpaceX und Blue Origin eine private Raumfahrtindustrie aufgebaut haben, die Kosten dramatisch senkt, bleibt Europa staatszentriert. Während China systematisch eine Mondstation plant, diskutiert Europa über Budgetverteilungen zwischen Mitgliedstaaten. Und während Indien mit Mini-Budgets spektakuläre Missionen stemmt, leistet sich Europa eine Bürokratie, die Innovation oft mehr behindert als fördert.
Das neue Budget soll unter anderem in Dekarbonisierung des Raumfahrtsektors fließen – ein typisch europäisches Anliegen, das anderswo kaum jemanden interessiert. Nicht, weil Nachhaltigkeit unwichtig wäre, sondern weil andere Raumfahrtnationen schlicht andere Prioritäten setzen: Geschwindigkeit, Kosteneffizienz, geopolitische Dominanz. Europa will die sauberste Raumfahrt der Welt aufbauen. Die Frage ist nur: Wird es noch eine relevante sein?
Washington unter Schock: Wenn Terror den Wahlkampf überschattet
Nur wenige Blocks vom Weißen Haus entfernt wurden am Mittwochabend zwei Nationalgardisten bei einem bewaffneten Angriff lebensgefährlich verletzt. Der mutmaßliche Täter, ein 29-jähriger Afghane, der 2021 unter Operation Allies Welcome in die USA kam und erst im April 2025 Asyl erhielt, feuerte gezielt auf die Soldaten. Präsident Donald Trump sprach von einem „Akt des Terrors“ und kündigte drastische Konsequenzen an: Alle Einwanderungsanträge afghanischer Staatsangehöriger werden ausgesetzt, alle unter Biden eingereisten Afghanen sollen überprüft werden.
Die politische Instrumentalisierung folgte binnen Stunden. Trump ordnete die Entsendung von 500 weiteren Nationalgardisten nach Washington an – obwohl bereits über 2.000 im Einsatz sind, deren Präsenz von Bürgermeisterin Muriel Bowser als unnötig und politisch motiviert kritisiert wird. Eine Bundesrichterin hatte die Mobilisierung kürzlich für unzulässig erklärt, die Entscheidung aber ausgesetzt, um der Regierung Berufung zu ermöglichen. Der Anschlag liefert Trump nun die Rechtfertigung für eine Politik, die Kritiker als Militarisierung der Hauptstadt bezeichnen.
Für die afghanische Community in den USA ist der Vorfall eine Katastrophe. Rund 200.000 Afghanen kamen seit 2021 ins Land, die meisten nach gründlicher Überprüfung. Die Organisation AfghanEvac warnt, eine ganze Gemeinschaft dürfe nicht für die Tat eines Einzelnen haftbar gemacht werden. Doch in einem Wahljahr, in dem Migration das dominierende Thema ist, zählen solche Differenzierungen wenig. Trump nutzt den Anschlag, um seine harte Linie zu legitimieren – und die Demokraten stehen unter Druck, nicht als „weich“ zu erscheinen.
Die Tragödie offenbart ein Dilemma westlicher Demokratien: Wie geht man mit Menschen um, die man aus moralischer Verpflichtung aufgenommen hat, wenn ein Einzelner diese Verpflichtung missbraucht? Die Antwort darf nicht sein, alle unter Generalverdacht zu stellen. Doch genau das geschieht gerade – und es wird Folgen haben, die weit über Washington hinausreichen.
Die stille Krise des deutschen Handwerks: Wenn Nachfolger fehlen
Während die großen politischen und wirtschaftlichen Debatten die Schlagzeilen dominieren, vollzieht sich in Deutschland eine Transformation, die kaum Aufmerksamkeit erhält, aber existenzielle Bedeutung hat: Die Builtech Group, ein Zusammenschluss von 51 Unternehmen der technischen Gebäudeausrüstung mit über 2.000 Mitarbeitern, wird Teil der niederländischen VDK Groep. Die neue Einheit generiert rund zwei Milliarden Euro Umsatz und beschäftigt 7.000 Menschen in sechs Ländern. Was nach klassischer Konsolidierung klingt, ist in Wahrheit eine Notoperation.
Das deutsche Handwerk steht vor einem Nachfolgeproblem dramatischen Ausmaßes: In den kommenden Jahren müssen fast 70.000 Betriebe übergeben werden – doch Nachfolger fehlen. Gleichzeitig steigen die Anforderungen: Digitalisierung, Fachkräftemangel, Nachhaltigkeitsregulierung. Viele Inhaber sind überfordert, ihre Betriebe fit für die Zukunft zu machen. Die Lösung: Zusammenschlüsse unter dem Dach größerer Strukturen, die Kapital, Know-how und Marktreichweite bieten.
Builtech und VDK versprechen, lokale Identitäten zu bewahren und gleichzeitig Synergien zu heben. Das klingt nach Quadratur des Kreises – und oft ist es das auch. Doch die Alternative ist schlimmer: Betriebe, die schließen, weil kein Nachfolger gefunden wird. Aufträge, die nicht angenommen werden können, weil Fachkräfte fehlen. Eine Branche, die langsam erodiert, während der Bedarf – Stichwort Energiewende, Gebäudesanierung – explodiert.
Die Ironie: Während Deutschland Milliarden in Digitalisierung und Dekarbonisierung investiert, fehlen die Handwerker, die diese Transformation umsetzen sollen. Die Builtech-VDK-Fusion ist ein Symptom dieser Schieflage – und ein Warnsignal, das die Politik nicht länger ignorieren sollte.
Wenn Sie diese Zeilen lesen, sind seit dem Anschlag in Washington etwa 36 Stunden vergangen. Die Ermittlungen laufen, die politischen Reaktionen sind erfolgt, der Wahlkampf geht weiter. In Zug hat Fanpla AG ihre europäische Expansion begonnen, in Deutschland diskutieren Unternehmen über Verbandsmitgliedschaften, und irgendwo plant ein Handwerksbetrieb seine Nachfolge – oder eben nicht. Die großen Narrative und die kleinen Geschichten, sie laufen parallel, beeinflussen sich gegenseitig, formen die Zukunft. Manchmal lohnt es sich, innezuhalten und die Muster zu erkennen, bevor sie uns überrollen.
Bis nächste Woche – und bleiben Sie neugierig.
Ihr Eduard Altmann
Donnerstag, 27. November 2025
