Liebe Leserinnen und Leser,
ein Sonntagnachmittag, der 8. Juni 2025. Solche Stunden laden oft dazu ein, die Nachrichten der vergangenen Woche nicht nur zu konsumieren, sondern sie auch sacken zu lassen, Querverbindungen zu suchen und vielleicht ein wenig tiefer zu graben. Und was sich da auftut, ist ein Bild globaler Verschiebungen, zahlreicher Krisenherde und einer spürbaren Nervosität, die weit über die Finanzmärkte hinausreicht. Es ist, als würden die tektonischen Platten der Weltordnung neu justiert, und wir mittendrin. Lassen Sie uns gemeinsam versuchen, einige dieser Beben zu verstehen und einzuordnen, was sie für uns bedeuten könnten.
Die allgegenwärtigen Krisen: Mehr als nur lokale Feuer?
Die Nachrichtenlage ist voll von Konflikten, die auf den ersten Blick regional begrenzt erscheinen, bei genauerem Hinsehen aber oft Symptome tieferliegender globaler Spannungen sind. Der Krieg in der Ukraine beispielsweise kennt keine Wochenendruhe. Berichte über russische Vorstöße nun auch bis an den Rand der Region Dnipropetrowsk zeigen die unerbittliche Dynamik dieses Konflikts. Gleichzeitig zwingen ukrainische Drohnenangriffe, die nun offenbar auch Moskau erneut erreichten und zur kurzzeitigen Schließung von Flughäfen führten, Russland zu Reaktionen und binden Ressourcen. Ein zermürbender Zustand, dessen Ende nicht absehbar ist.
Auch der Nahe Osten bleibt ein Pulverfass. Während Israel versucht, seine Staatsfinanzen für die kommenden Jahre zu planen und einen Haushaltsdefizit unter 3% des BIP bis 2026 anstrebt – ein fast schon surrealer Plan angesichts der immensen Kriegskosten –, geht die Tragödie in Gaza weiter. Erneut berichten palästinensische Sanitäter von Toten durch israelisches Feuer nahe eines Hilfsgüterverteilzentrums. Humanitäre Hilfe unter diesen Umständen zu leisten, ist ein gefährliches Unterfangen. Und im Hintergrund schwelt der Schattenkonflikt mit dem Iran, der nun laut eigenen Angaben mit der baldigen Enthüllung "sensibler israelischer Dokumente" droht – ein weiteres Kapitel im psychologischen Krieg und den Machtspielen der Region.
Diese großen Krisenherde werden flankiert von zahlreichen weiteren Spannungen weltweit: an der Grenze zwischen Thailand und Kambodscha werden Öffnungszeiten von Grenzübergängen aus Sicherheitsgründen verkürzt, Ruanda zieht sich aus einem zentralafrikanischen Staatenbund im Streit mit dem Kongo zurück, in Kolumbien kämpft ein Senator und potenzieller Präsidentschaftskandidat nach einem Attentat um sein Leben, und Ecuador versucht mit neuen Gesetzen, der Bandenkriminalität Herr zu werden. Selbst fernab der großen Schlagzeilen brodelt es – ein deutliches Zeichen für eine zunehmend fragmentierte und instabile Weltlage. In Taiwan hält man derweil gemeinsame Manöver von Küstenwache und Militär ab, um besser auf Chinas "Grauzonen"-Taktiken reagieren zu können. Fast überall scheint der Status Quo herausgefordert.
Die USA: Ein Riese im Wandel und die Frage der globalen Führung
Die Rolle der Vereinigten Staaten in dieser sich wandelnden Weltordnung ist dabei eine der zentralen Fragen. Unter Präsident Trump sehen wir eine Politik, die oft innenpolitisch motiviert ist, aber globale Wellen schlägt. Der gerade in Kraft getretene Einreisebann für Bürger aus zwölf Ländern ist ein starkes Symbol für eine Politik der Abschottung. Gleichzeitig eskalieren innenpolitische Spannungen, wie der geplante Einsatz von 2.000 Nationalgardisten in Los Angeles nach Protesten gegen Razzien von Einwanderungsbehörden zeigt. Vizepräsident Vance spricht von "Aufständischen, die ausländische Flaggen tragen" – eine Rhetorik, die die Spaltung des Landes unterstreicht.
Fast schon bizarr mutet daneben der Bericht über den Personalmangel in US-Nationalparks an, der dazu führt, dass selbst Wissenschaftler Toiletten reinigen müssen – eine kuriose, aber bezeichnende Folge von Budgetkürzungen und Effizienzprogrammen der Trump-Administration. Währenddessen versammeln sich Menschen in Washington zu einer LGBTQ+-Rechtskundgebung am Lincoln Memorial, um gegen Rückschritte unter der aktuellen Regierung zu protestieren.
In diese Gemengelage platzt die bemerkenswerte Kritik des neuen, aus den USA stammenden Papstes Leo, der nationalistische politische Bewegungen als "bedauerlich" bezeichnet und zu offenen Grenzen aufruft. Eine Stimme, die in Washington sicher gehört wird, auch wenn sie nicht direkt an Trump adressiert war.
Diese Entwicklungen scheinen die Analyse von BCA Research zu bestätigen: Wir erleben wohl einen Übergang von einer unipolaren, von den USA dominierten Welt hin zu einer multipolaren Ordnung. Eine Welt, in der mehrere Akteure eigenständige Außenpolitik betreiben und die USA nicht mehr automatisch der zentrale Anker für Kapitalflüsse oder politische Stabilität sind. Diese Verschiebung, so die Analysten, könnte über die nächsten fünf bis zehn Jahre zu höheren US-Anleiherenditen, einem schwächeren Dollar und einer Underperformance von US-Aktien im Vergleich zu Übersee führen.
Wirtschaftliche Echos: Europas Kurs in rauer See
Wie reagiert die Wirtschaft auf dieses globale Szenario? Die Europäische Zentralbank (EZB) hat nach der Zinssenkung in der vergangenen Woche nun Signale der Vorsicht gesendet. Bundesbankpräsident Joachim Nagel betonte, man könne sich nun "Zeit nehmen", da die Geldpolitik nicht mehr restriktiv sei. Sein spanischer Kollege José Luis Escrivá sieht Raum für "behutsame Anpassungen", sollte sich das aktuelle makroökonomische Bild bestätigen. Und Boris Vujcic aus Kroatien mahnte, nicht auf jede kleine Inflationsabweichung vom Ziel "überzureagieren". Der Tenor ist klar: Die nächste Zinssenkung ist kein Selbstläufer, die Unsicherheit bleibt hoch. Escrivá merkte zudem an, dass das Vertrauen in den Dollar und US-Vermögenswerte seit Trumps Amtsantritt abgenommen habe und die Dominanz des Dollars als globale Reservewährung ihren Höhepunkt überschritten haben könnte.
Diese abwartende Haltung der EZB spiegelt auch die globalen Konjunktursorgen wider. Analysten von UBS erwarten eine Verlangsamung des globalen Wachstums im zweiten Halbjahr. Sie verweisen auf zunehmende Handelsspannungen und die Komplexität möglicher US-Zölle, deren direkter Einfluss – beispielsweise auf Eisenerzpreise – zunächst begrenzt sein könnte, die aber das globale Wachstum und die Nachfrage negativ beeinflussen. Auch das Risiko von Kreditausfällen in den USA sieht UBS steigen, auch wenn die Situation (noch) nicht dramatisch sei.
Für uns in Europa stellt sich damit die drängende Frage: Wie navigieren wir in dieser multipolaren Welt, mit einem potenziell isolationistischeren Amerika und globalen Handelskonflikten, die jederzeit neu entflammen können? Die Antwort kann nur in der Stärkung der eigenen Resilienz und in einer klugen, interessengeleiteten Politik liegen.
Mein Fazit für diesen Sonntag
Liebe Leserinnen und Leser, die Welt ist komplexer und unübersichtlicher geworden. Die alten Gewissheiten bröckeln, und neue Ordnungsprinzipien sind noch nicht klar erkennbar. Die vielen Krisenherde, die politischen Verwerfungen in Schlüsselregionen und die wirtschaftlichen Unsicherheiten sind keine isolierten Ereignisse, sondern Teile eines größeren Wandels.
Die kommenden Monate und Jahre werden zeigen, wie sich diese neue globale Realität konkret ausgestaltet und welche Rolle Europa und Deutschland darin spielen werden und wollen. Anpassungsfähigkeit, ein klarer Blick für die eigenen Interessen und die Bereitschaft, alte Denkmuster zu hinterfragen, werden dabei unerlässlich sein. Vielleicht liegt in dieser Phase der Unsicherheit ja auch die Chance, lästige Abhängigkeiten zu reduzieren und gestärkt neue Wege zu beschreiten.
Ich wünsche Ihnen trotz dieser ernsten Themen einen Restsonntag, der Ihnen Raum für eigene Gedanken und vielleicht auch ein wenig Zuversicht gibt.
Ihr Eduard Altmann