Liebe Leserinnen und Leser,
ein weiterer Tag, an dem die globalen Finanzmärkte von einer Welle aus widersprüchlichen Signalen erfasst werden. Auf der einen Seite keimt zarte Hoffnung auf, wenn von neuen Handelsabkommen die Rede ist. Auf der anderen Seite malen Notenbanker und Analysten düstere Bilder von den Risiken eines ungezügelten Protektionismus. Es ist ein ständiges Auf und Ab, ein Balanceakt auf dem schmalen Grat zwischen Optimismus und tiefsitzender Verunsicherung. Wie navigiert man in solch einem Umfeld? Versuchen wir heute gemeinsam, die wichtigsten Strömungen zu verstehen und einzuordnen, was diese Entwicklungen für uns hier in Europa bedeuten könnten.
Das große Zoll-Wirrwarr: Von Mini-Deals und massiven Drohkulissen
Das Thema Handel, oder besser gesagt Handelskrieg, lässt uns einfach nicht los. Aus Washington hören wir heute von einem geplanten Handelsabkommen mit Großbritannien. Klingt erstmal gut, oder? Doch bei genauerem Hinsehen scheint es sich eher um einen kleinen Schritt zu handeln, eine Art Absichtserklärung, die an den grundlegenden US-Universalzöllen von 10% wohl nichts ändern wird. Präsident Trump selbst spricht von einem "großen" Deal, dem "ersten von vielen", und kündigt auch Verhandlungen mit anderen Partnern wie Japan oder der Europäischen Union an. Doch die Skepsis überwiegt, ob hier wirklich eine nachhaltige Entspannung in Sicht ist.
Die Realität sieht für viele noch anders aus. Die Bank of Canada hat gestern in aller Deutlichkeit vor den massiven Risiken der US-Handelspolitik für die kanadische Finanzstabilität gewarnt. In ihrem Finanzstabilitätsbericht zeichnet sie ein Szenario, in dem ein lang anhaltender Handelskrieg zu Marktvolatilität bis hin zur Dysfunktion führen und hochverschuldete Haushalte und Unternehmen in ernste Schwierigkeiten bringen könnte. Auch wenn das Finanzsystem als widerstandsfähig gilt, die Sorgen vor dem "Schock" eines Handelskrieges sind greifbar. Selbst die Ratingagenturen blicken argwöhnisch auf die Auswirkungen dieser Unsicherheit.
Und Europa? Die Europäische Kommission lässt sich nicht lumpen und bereitet ihrerseits Gegenmaßnahmen vor, die sich auf bis zu 95 Milliarden Euro an US-Importen belaufen könnten, sollte es keine Verhandlungslösung geben. Es ist ein Säbelrasseln, das die hohen Einsätze in diesem globalen Poker verdeutlicht. Für unsere exportorientierte deutsche Wirtschaft sind das keine guten Nachrichten. Die gerade noch positiven Export- und Produktionszahlen für März, die teils auf Vorzieheffekte vor den US-Zöllen zurückzuführen sind, könnten sich schnell ins Gegenteil verkehren. Unternehmen wie der japanische Autogigant Toyota warnen bereits vor massiven Gewinneinbrüchen durch die US-Zölle. Es zeigt sich: Im globalen Handel ist niemand eine Insel.
Interessanterweise gibt es auch Profiteure der Verschiebungen: Die US-Exporte von Flüssiggasderivaten (NGLs) erreichen Rekordhöhen, obwohl die Lieferungen nach China einbrechen. Andere Länder wie Indien, Brasilien und Japan springen in die Bresche – ein Zeichen dafür, wie schnell sich Handelsströme neu organisieren können, wenn es sein muss.
Notenbanken im Nebel: Zinssenkung hier, Warnungen dort
Die Zentralbanken stehen angesichts dieser handelspolitischen Unwägbarkeiten vor einer enormen Herausforderung. Die Bank of England hat heute die Zinsen um 25 Basispunkte auf 4,25% gesenkt – ein erwarteter Schritt, um die schwächelnde britische Konjunktur zu stützen. Die britische Wirtschaftsministerin steht derweil unter Druck, die Steuern zu erhöhen, da das Wachstum geringer ausfällt als prognostiziert und die Inflation hartnäckig bleibt. Auch der britische Immobilienmarkt kühlt sich nach dem Auslaufen einer Steuererleichterung ab. Es ist ein schwieriger Spagat für die Geldpolitiker auf der Insel.
Jenseits des Atlantiks hält die US-Notenbank Federal Reserve die Füße still, was die Zinsen angeht. Doch Fed-Chef Jerome Powell warnte unmissverständlich vor den negativen Auswirkungen der US-Zölle auf Inflation und Arbeitslosigkeit. Die Unsicherheit ist so groß, dass die Fed vorerst abwarten will, wie sich die Lage entwickelt. Diese Zurückhaltung und die Sorgen der Fed über die Zollfolgen haben auch die US-Anleihemärkte verunsichert, die sich laut Analysten von Capital Economics nach dem Abverkauf im April noch nicht vollständig erholt haben.
Für uns in der Eurozone bedeutet das: Die Europäische Zentralbank wird die Entscheidungen und Kommentare aus London und Washington genau beobachten. Zwar haben wir unsere eigenen Herausforderungen, aber die globale Gemengelage, insbesondere die Inflationstendenzen durch Zölle und die Auswirkungen auf das globale Wachstum, spielen auch für die EZB eine wichtige Rolle. Die heute veröffentlichte Studie der EZB, die die Bedeutung ausländischer Arbeitskräfte für das Wachstum in der Eurozone hervorhebt, zeigt, wie wichtig funktionierende globale Rahmenbedingungen auch für unseren Arbeitsmarkt sind.
Weltbühne der Kontraste: Neue Allianzen und gefährliche Funken
Während die Handelsfronten umkämpft sind, formieren sich auf der geopolitischen Bühne neue Konstellationen oder alte Konflikte flammen wieder auf:
- Russland und China demonstrieren Einigkeit: Bei den pompösen Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland in Moskau standen Wladimir Putin und Xi Jinping Seite an Seite. Sie inszenierten sich als Verteidiger der Weltordnung und kündigten eine weitere Vertiefung ihrer Partnerschaft an, auch bei Energielieferungen. Parallel dazu versucht Russland, mit milliardenschweren Investitionsversprechen an das verbündete Kuba seine internationalen Bande zu festigen.
- Eskalation zwischen Indien und Pakistan: Die Lage zwischen den beiden Atommächten Indien und Pakistan hat sich bedrohlich zugespitzt. Pakistan meldet den Abschuss zahlreicher indischer Drohnen, nachdem Indien Ziele in Pakistan angegriffen hatte. Das US-Konsulat in Lahore wies seine Mitarbeiter an, Schutz zu suchen. Dieser Konflikt birgt ein enormes Eskalationspotenzial.
- Saudi-Arabien und die BRICS-Frage: Das Königreich ziert sich offenbar, dem BRICS-Staatenbündnis formell beizutreten. Die Sorge, Washington zu verärgern, scheint hier eine Rolle zu spielen, während man gleichzeitig die Beziehungen zu wichtigen Handelspartnern wie China pflegt – ein diplomatischer Drahtseilakt.
- Norwegen blickt nach Europa: Angesichts der als weniger verlässlich empfundenen transatlantischen Beziehungen unter der aktuellen US-Administration sucht Norwegen eine engere sicherheitspolitische Anbindung an seine nordischen Nachbarn und wichtige europäische Verbündete.
Ein Lichtblick der Großzügigkeit und die Krypto-Euphorie
Inmitten all dieser Spannungen gibt es auch Nachrichten, die Hoffnung machen oder zumindest für Aufsehen sorgen. Bill Gates hat angekündigt, fast sein gesamtes Vermögen in den nächsten zwei Jahrzehnten zu spenden und seine Stiftung bis 2045 zu schließen. Eine beeindruckende philanthropische Geste in Zeiten, in denen staatliche Entwicklungshilfe oft gekürzt wird.
Am Kryptomarkt herrscht derweil fast schon wieder Goldgräberstimmung. Bitcoin flirtet mit der Marke von 100.000 US-Dollar, befeuert von der Hoffnung auf eine Beruhigung der Handelskonflikte. Der milliardenschwere Kauf der Derivateplattform Deribit durch Coinbase zeigt, wie stark der Glaube an die Zukunft der Branche ist, auch weil die US-Regierung eine krypto-freundlichere Haltung signalisiert.
Mein Fazit: Wachsamkeit und Weitblick in stürmischen Zeiten
Der heutige Tag liefert ein Paradebeispiel für die Komplexität und Widersprüchlichkeit unserer globalisierten Welt. Politische Entscheidungen in Washington haben direkte Auswirkungen auf Unternehmen und Verbraucher in Europa und anderswo. Die Hoffnung auf eine Entspannung im Handelsstreit kann schnell von neuen Drohungen oder geopolitischen Krisen überschattet werden.
Für uns als Anleger und Beobachter bedeutet dies vor allem: Wir müssen lernen, mit dieser Unsicherheit zu leben und unsere Strategien entsprechend anzupassen. Die Unberechenbarkeit erfordert Flexibilität und einen klaren Kopf. Panik ist ebenso ein schlechter Ratgeber wie blinde Euphorie. Es gilt, die Fundamentaldaten nicht aus den Augen zu verlieren, Risiken breit zu streuen und vor allem langfristig zu denken. Die Entscheidungen der Notenbanken werden weiterhin eine wichtige Rolle spielen, aber die eigentlichen Treiber sind oft die großen politischen und wirtschaftlichen Machtverschiebungen.
Was denken Sie über die aktuellen Entwicklungen? Welche Signale stimmen Sie optimistisch, welche bereiten Ihnen Sorgen? Ich freue mich auf Ihre Gedanken.
Bis morgen, bleiben Sie wachsam!
Ihr Eduard Altmann