Liebe Leserinnen und Leser,
was für ein Dienstag! Es fühlt sich an, als würden wir permanent durch ein wirtschaftspolitisches Minenfeld navigieren. Kaum ist eine vermeintliche Detonation verhallt – wie die gestrige Nachricht der US-Herabstufung durch Moody’s, die uns schon den Wochenauftakt "versüßt" hat – da zünden schon die nächsten Sprengsätze. Heute ist es ein Potpourri aus angespannten Kongressanhörungen in Washington, neuen Sanktionsrunden diesseits des Atlantiks und der immerwährenden Melodie geopolitischer Krisen, die den Takt an den Märkten vorgeben. Man kommt kaum dazu, die Fundamentaldaten zu studieren, weil politische Schachzüge und rhetorische Breitseiten die Agenda bestimmen. Wie behält man da den Überblick, geschweige denn einen kühlen Kopf?
Washington im Scheinwerferlicht: Rubios Verhör und Trumps Steuer-Charmeoffensive
In Washington dürften heute die Ohren glühen. Außenminister Marco Rubio muss sich vor seinen ehemaligen Senatskollegen für Präsident Trumps radikale "America First"-Außenpolitik und die drastischen Budgetkürzungen, insbesondere bei der internationalen Entwicklungshilfe, verantworten. Ein Kernstück ist dabei der neue "America First Opportunity Fund" – ein Name, der wie Hohn klingen mag für jene, die jahrzehntelang auf verlässlichere US-Hilfe gesetzt haben. Es ist mehr als nur eine Budgetdebatte; es ist ein Lackmustest dafür, wie sehr sich die USA unter Trump von multilateralen Ansätzen verabschieden und auf eine rein transaktionale, nationalistische Sichtweise einschwenken. Die Demokraten, die Rubio einst mit ins Amt gehievt haben, dürften ihm heute kritische Fragen zur Rolle der USA im Wettbewerb mit China oder zur Syrien- und Ukraine-Politik stellen. Spannend wird, ob Rubio die Reihen schließen kann oder ob die Risse in Trumps außenpolitischer Fassade deutlicher werden.
Parallel dazu versucht Präsident Trump heute persönlich auf dem Capitol Hill, seine republikanischen Parteifreunde auf Linie zu bringen. Es geht um nicht weniger als ein weiteres gigantisches Steuersenkungspaket. Während Trump von einer "enorm einigen Partei" spricht, rumort es hinter den Kulissen gewaltig. Hardliner fordern tiefere Ausgabenkürzungen, Moderate sorgen sich um soziale Programme, und Abgeordnete aus Küstenstaaten wollen die Absetzbarkeit lokaler Steuern schützen. Das Ganze vor dem Hintergrund einer Staatsverschuldung, die Analysten bei Verabschiedung des Pakets um weitere drei bis fünf Billionen Dollar anschwellen sehen. Die Drohung Trumps, Abweichler könnten bei den nächsten Wahlen parteiinterne Herausforderer bekommen, zeigt, mit welchen Bandagen hier gekämpft wird. Für die Märkte bedeutet das vor allem eines: anhaltende Unsicherheit über die zukünftige Fiskalpolitik der weltgrößten Volkswirtschaft und damit auch über den Dollar.
Dieser innenpolitische Druck in den USA hat längst globale Auswirkungen. Eine aktuelle Umfrage von Allianz Trade zeigt deutlich: Die Exportstimmung weltweit leidet massiv unter den US-Zöllen und der handelspolitischen Unsicherheit. 42% der befragten Unternehmen erwarten signifikant sinkende Exporterlöse. Das ist ein Alarmsignal!
Europas Antwort: Zwischen Sanktionen und leiser Zuversicht
Während Washington mit sich selbst ringt, zeigt Europa in einigen Bereichen durchaus Zähne. Bemerkenswert ist, dass die EU und Großbritannien heute neue Sanktionen gegen Russland verkündet haben, die auf Moskaus "Schattenflotte" von Öltankern und beteiligte Finanzfirmen zielen. Und das, ohne auf die USA zu warten! Man erinnert sich: Noch gestern verkündete Präsident Trump nach einem Telefonat mit Putin vollmundig, Russland und die Ukraine würden "sofort" Waffenstillstandsverhandlungen aufnehmen. Der Kreml ruderte zwar schnell zurück und sprach von einem Prozess, der Zeit brauche, aber die europäische Reaktion zeigt: Man lässt sich hier nicht mehr ohne Weiteres von Washingtons erratischen Manövern vorführen. Die Frustration in Brüssel und London über Trumps Zögern, selbst mit härteren Sanktionen Druck auf Moskau auszuüben, ist spürbar.
Auch an anderer Front agiert Europa eigenständiger. Großbritannien hat angesichts der eskalierenden israelischen Militäroffensive im Gazastreifen die Freihandelsgespräche mit Israel auf Eis gelegt und weitere Sanktionen gegen extremistische Siedler im Westjordanland angekündigt. Außenminister David Lammy nannte die Offensive "unvereinbar mit den Prinzipien unserer bilateralen Beziehung" und einen "Affront gegen die Werte des britischen Volkes". Das sind ungewöhnlich scharfe Töne gegenüber einem traditionellen Partner und ein klares Signal, dass die Geduld mit der Regierung Netanjahu auch bei Verbündeten schwindet. Frankreich schlägt in dieselbe Kerbe und fordert ein sofortiges Ende der Offensive sowie ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe. Die Lage in Gaza, wo laut lokalen Medizinern allein heute wieder Dutzende Palästinenser bei israelischen Angriffen getötet wurden, bleibt katastrophal und ein humanitärer Schandfleck.
Trotz dieser Krisenherde gibt es aus der Eurozone einen kleinen Hoffnungsschimmer: Das Verbrauchervertrauen hat sich im Mai leicht verbessert, stärker als von Ökonomen erwartet. Kein Grund zur Euphorie, aber vielleicht ein Zeichen, dass die Talsohle langsam durchschritten wird. Langfristig sieht EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen jedoch große Herausforderungen und fordert für den nächsten EU-Haushalt (2028-2034) mehr Flexibilität und vor allem neue Einnahmequellen, um die gemeinsamen Schulden aus dem Corona-Wiederaufbaufonds zu tilgen und neue Prioritäten wie KI oder Klimawandel zu finanzieren.
Globale Märkte im Clinch: Geldpolitik, Rohstoffe und der unaufhaltsame Bitcoin?
Die Geldpolitik bleibt ein heißes Eisen. In Großbritannien gießt Huw Pill, der Chefökonom der Bank of England, Wasser in den Wein allzu forscher Zinssenkungsfantasien. Das bisherige Tempo der vierteljährlichen Zinsschritte hält er angesichts des immer noch starken Lohndrucks für "zu schnell". Seine Stimme für ein Halten der Zinsen bei der letzten Sitzung sei eher ein "Aussetzen" als ein Ende der restriktiven Haltung gewesen. Das dürfte jene enttäuschen, die auf eine rasche Entlastung gehofft hatten.
Anderswo wird bereits gehandelt: China hat erneut die Leitzinsen gesenkt, um die stotternde Konjunktur anzukurbeln. Ein Schritt, der auch als Reaktion auf die anhaltenden handelspolitischen Spannungen und die Auswirkungen der US-Zölle gesehen werden kann. Gleichzeitig kämpft Peking mit hausgemachten Problemen, wie dem Disput mit Indonesien über Kohlepreise, der zu einem drastischen Einbruch der Lieferungen des wichtigsten Kohleversorgers geführt hat. Auch die Importe aus Russland und Australien sind rückläufig, da niedrigere heimische Kohlepreise in China den Import unattraktiver machen.
Spannend bleibt die Entwicklung am japanischen Anleihemarkt. Die Renditen für super-lange Staatsanleihen sind auf Rekordhöhen geschossen, nachdem eine Auktion 20-jähriger Papiere auf geringe Nachfrage stieß. Die Sorgen um die Nachfrage nach japanischen Schulden wachsen vor dem Hintergrund erhöhter US-Renditen und möglicher fiskalischer Stimulierungsmaßnahmen vor den Wahlen. Einige Marktteilnehmer fordern bereits, die Bank of Japan solle ihre Käufe super-langer Anleihen wieder ausweiten.
Und was macht der Ölpreis? Er zeigt sich heute relativ unbeeindruckt, pendelt seitwärts. Die Unsicherheit über den stockenden US-Iran-Atomdeal und die vagen Aussichten auf einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine halten sich die Waage. Ein echter Durchbruch bei einem der beiden Themen könnte hier schnell für Bewegung sorgen.
Ein Profiteur der globalen Unsicherheit und der Suche nach Alternativen scheint weiterhin Bitcoin zu sein. Die Kryptowährung notiert nahe ihrer jüngsten Hochs. Standard Chartered sieht Hinweise darauf, dass Bitcoin eine breitere Käuferbasis anzieht, darunter auch Staatsfonds, die indirekt über Beteiligungen an Unternehmen wie MicroStrategy Exposure aufbauen. Der Fortschritt eines Gesetzes zur Regulierung von Stablecoins im US-Senat könnte zudem für mehr Akzeptanz im institutionellen Bereich sorgen. Es bleibt abzuwarten, ob diese Entwicklung nachhaltig ist oder ob die Volatilität bald wieder zuschlägt.
Fazit: Nervenstärke und klare Analyse sind gefragt
Liebe Leserinnen und Leser, die Ereignisse dieses Dienstags unterstreichen einmal mehr: Wir leben in einer Zeit, in der politische Entscheidungen und geopolitische Verwerfungen oft schneller und direkter auf die Finanzmärkte durchschlagen als klassische Wirtschaftsdaten. Das macht die Analyse nicht einfacher, aber umso wichtiger. Es gilt, die oft widersprüchlichen Signale aus Washington, Brüssel, Moskau oder Peking genau zu beobachten und die potenziellen Auswirkungen auf die verschiedenen Anlageklassen und Wirtschaftsräume zu bewerten.
Die Eigenständigkeit, die Europa in der Sanktionspolitik gegenüber Russland oder in der kritischen Haltung gegenüber Israels Vorgehen in Gaza zeigt, ist ein interessanter Aspekt. Gleichzeitig sind die wirtschaftlichen Herausforderungen, von der Finanzierung des EU-Haushalts bis zur richtigen geldpolitischen Justierung, immens.
Für uns Anleger bedeutet das, weiterhin eine klare Strategie zu verfolgen, Risiken breit zu streuen und sich nicht von jeder kurzfristigen politischen Schlagzeile aus der Ruhe bringen zu lassen. Aber es bedeutet auch, die politischen Dimensionen der Finanzmärkte nicht zu unterschätzen.
Bleiben Sie wachsam und kritisch.
Herzlichst,
Ihr Eduard Altmann