Liebe Leserinnen und Leser,
ein Sonntagnachmittag, der eigentlich zur Einkehr einladen sollte, uns aber mit einer Welt im permanenten Krisenmodus konfrontiert. Während in Rom mit der Amtseinführung von Papst Leo XIV. ein Moment feierlicher Tradition im Mittelpunkt stand, ein Ereignis, das von Hoffnung auf Einheit und Frieden geprägt sein sollte, spielten sich am Rande dieser Zeremonie und weit darüber hinaus Dramen ab, die die Zerbrechlichkeit unserer globalen Ordnung einmal mehr unterstreichen. Es ist ein Bild voller Kontraste: Hier der Ruf nach Versöhnung, dort die unerbittliche Realität von Krieg und geopolitischen Machtverschiebungen. Wo steht Europa in diesem Spannungsfeld, und welche Signale sendet dieser Sonntag aus?
Brennpunkte des Leids: Wenn Diplomatie versagt und Waffen sprechen
Die Nachrichten aus der Ukraine sind an diesem Wochenende besonders düster. Russland hat mit dem größten Drohnenangriff seit Kriegsbeginn Tod und Zerstörung über das Land gebracht. Ein brutaler Akt, der jede Hoffnung auf eine baldige Deeskalation zunichtemacht, während Präsident Selenskyj in Rom – am Rande der päpstlichen Inauguration – mit US-Vizepräsident Vance und Außenminister Rubio das Gespräch suchte. Es sind verzweifelte diplomatische Bemühungen, die im scharfen Kontrast zu den gescheiterten direkten Gesprächen mit Moskau stehen, wo Russland Bedingungen stellte, die Kiew als "nicht verhandelbar" ablehnte. Dass US-Präsident Trump nun einen eigenen Call mit Wladimir Putin plant, während die europäischen Staats- und Regierungschefs dringend vorher mit Trump sprechen wollen, zeigt die angespannte und komplexe Gemengelage. Eine Analyse von BCA Research, die Putin aus wirtschaftlichen Gründen eine baldige Bereitschaft zu einem Waffenstillstand attestiert, mag theoretisch nachvollziehbar klingen – die Realität vor Ort spricht leider eine andere, blutige Sprache. Papst Leo selbst fand deutliche Worte für die "gemarterte" Ukraine und forderte einen "gerechten und dauerhaften Frieden".
Gleichzeitig eskaliert die Gewalt im Gazastreifen weiter. Berichte über israelische Luftangriffe mit wiederum über hundert palästinensischen Todesopfern innerhalb kürzester Zeit erschüttern. Die Blockade von Hilfsgütern verschärft die humanitäre Katastrophe, während auch hier die Vermittlungsgespräche festgefahren scheinen. Hamas fordert ein Ende des Krieges als Bedingung für die Freilassung von Geiseln – eine Position, die Israel bisher nicht akzeptiert. Die Zerstörung von Zeltlagern, in denen Vertriebene Schutz suchten, zeugt von der Rücksichtslosigkeit der Kriegsführung. Es ist kein Wunder, dass Zehntausende in Den Haag gegen Israels Vorgehen und für eine härtere Haltung ihrer Regierung auf die Straße gingen. Auch hier mahnte der neue Papst eindringlich und sprach von Menschen in Gaza, die "dem Hungertod preisgegeben" seien. Man spürt förmlich, wie das Leiden an diesen Kriegsschauplätzen die internationale Gemeinschaft zerreißt und alte Gewissheiten in Frage stellt.
Trumps lange Schatten: Neue Allianzen, harte Bandagen und die Suche nach Stabilität
Die Weltbühne wird derzeit maßgeblich von den Initiativen und der oft disruptiven Politik von US-Präsident Trump geprägt. Seine jüngste Golf-Tour zementiert eine bemerkenswerte Neuausrichtung der amerikanischen Nahostpolitik. Der Händedruck mit Syriens neuem islamistischen Führer Ahmed al-Sharaa, den Israel als Terroristen brandmarkt, und die gleichzeitige öffentliche Frustration Washingtons über Benjamin Netanjahus Kurs signalisieren eine mögliche Abkehr von der bedingungslosen Unterstützung Israels. Stattdessen setzt Trump auf eine neue sunnitisch geführte Ordnung, schmiedet milliardenschwere Waffen- und Wirtschaftsdeals mit Saudi-Arabien, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Diese Verschiebung könnte Israel weiter isolieren und die ohnehin angespannte Lage zusätzlich verkomplizieren. Die Ankündigung, die Sanktionen gegen Syrien aufzuheben, wenige Tage nachdem Damaskus bewaffneten Gruppen ein Ultimatum zur Integration in die Armee gestellt hat, fügt sich in dieses Bild einer pragmatischen, interessengeleiteten US-Außenpolitik.
Im globalen Handel bleibt die Lage angespannt, auch wenn in Rom US-Vizepräsident Vance und EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen die Hoffnung auf Fortschritte in den bilateralen Handelsgesprächen äußerten. Die von Trump verhängten Zölle auf Stahl, Aluminium und Autos bleiben ein Zankapfel. Eine Analyse der Deutschen Bank zum US-chinesischen Handelskrieg kommt zu dem Schluss, dass zwar ein vollständiges "Decoupling" zugunsten "sektorspezifischer strategischer Entkopplung" aufgegeben wurde, das grundlegende Ungleichgewicht zwischen chinesischer Überproduktion und amerikanischem Überkonsum aber fortbesteht. China reagiert seinerseits mit Anti-Dumping-Zöllen auf bestimmte Kunststoffimporte aus der EU, den USA, Japan und Taiwan. Und auch Südkorea, ein wichtiger Wirtschaftspartner, kündigt an, bei den US-Zöllen seine nationalen Interessen entschieden verteidigen zu wollen. Diese handelspolitischen Verwerfungen haben direkte Auswirkungen, wie sich auch in der Diskussion um die Finanzierung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zeigt: Angesichts des drohenden US-Austritts muss die WHO sich neu aufstellen, wobei China als Geldgeber an Einfluss gewinnt.
Europa am Scheideweg: Innere Wahlen, wirtschaftliche Ungewissheit und die Suche nach der eigenen Stimme
Während die Weltpolitik von großen Krisen und Trumps Manövern dominiert wird, steht Europa selbst vor wichtigen Weichenstellungen und strukturellen Herausforderungen. Heute findet die erste Runde der Präsidentschaftswahlen in Polen statt. Dieses Votum gilt als wichtiger Test dafür, ob das Land den pro-europäischen Kurs von Premierminister Donald Tusk fortsetzt oder sich nationalistischen, euroskeptischen Kräften zuwendet. Ein Ergebnis mit Signalwirkung für die gesamte EU. Parallel dazu wurde erst kürzlich in Portugal gewählt, und wieder scheint eine stabile Regierungsbildung in weiter Ferne. Diese innenpolitischen Unsicherheiten kommen zu einer Zeit, in der Europa seine Rolle neu definieren muss.
Wirtschaftlich bleibt die Lage fragil. EZB-Ratsmitglied Pierre Wunsch deutete an, dass die Leitzinsen in der Eurozone angesichts der globalen Handelsspannungen und der daraus resultierenden Abwärtsrisiken für Inflation und Wachstum möglicherweise auf "leicht unter" 2 Prozent gesenkt werden müssten. Eine bemerkenswerte Aussage von einem Ratsmitglied, das eher dem "falkenhaften" Lager zugerechnet wird. Gleichzeitig weist eine Analyse von Capital Economics auf drei fundamentale Fragen hin, denen sich Europa stellen muss: Kann der Rest Europas Deutschlands möglicher Abkehr von strikter Fiskaldisziplin folgen, ohne Haushaltskrisen zu riskieren? Wie begegnet der Kontinent dem technologischen Rückstand, insbesondere im Bereich KI? Und kann Europa tatsächlich als "dritter Pol" in einer zunehmend von USA und China geprägten Weltordnung agieren? Die jüngste Google-Android-Veranstaltung, bei der die Weiterentwicklung der KI "Gemini" im Mittelpunkt stand, unterstreicht die Dringlichkeit der Tech-Frage für Europa.
Sonntägliche Reflexionen in stürmischen Zeiten
Dieser Sonntag, liebe Leserinnen und Leser, hinterlässt ein tiefes Gefühl der Ambivalenz. Die feierlichen Klänge aus Rom können die Dissonanzen der Weltpolitik kaum übertönen. Die Kriege in der Ukraine und in Gaza fordern unermessliches Leid, während die diplomatischen Mühlen langsam und oft wirkungslos mahlen. Die Neuausrichtung der US-Außenpolitik unter Präsident Trump wirbelt alte Gewissheiten durcheinander und stellt traditionelle Allianzen auf die Probe.
Für uns in Europa bedeutet dies eine immense Herausforderung. Es gilt, inmitten dieser globalen Verwerfungen eine eigene, starke und geeinte Stimme zu finden. Die politischen Entscheidungen in Polen und die wirtschaftspolitischen Debatten zeigen, dass der Weg dorthin kein einfacher ist. Die strukturellen Fragen, die Capital Economics aufwirft, müssen dringend beantwortet werden, wenn Europa nicht weiter ins Hintertreffen geraten will.
Es ist ein Sonntag, der mehr Fragen aufwirft, als er Antworten gibt. Die Komplexität der Lage kann entmutigend wirken. Doch gerade deshalb ist es umso wichtiger, informiert zu bleiben, kritisch zu hinterfragen und die Hoffnung auf vernünftige Lösungen nicht aufzugeben. Denn nur eine wache und engagierte Zivilgesellschaft kann dazu beitragen, den Kurs in eine bessere Richtung zu lenken.
Ich wünsche Ihnen trotz der ernsten Nachrichtenlage einen besinnlichen Restsonntag und einen guten Start in die neue Woche.
Herzlichst,
Ihr Eduard Altmann